5. November 2018 | Interview, Retail Technology, Visions of Retail

Shopping in der erweiterten Realität mit VR und AR

Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) versprechen nicht nur ein spannendes Entertainment-Erlebnis. Sie finden schon ganz praktische Anwendung in einigen Branchen. Welche Möglichkeiten bieten sie für Händler und Kunden? Wie sehen aktuelle und zukünftige Einsatzszenarien aus? Dr. Jonathan Harth von der Universität Witten/Herdecke teilt seine Einschätzung zu diesen Technologien mit uns.

Sie sind Soziologe und beschäftigen sich unter anderem mit dem Buddhismus. Woher kommt Ihr Interesse für das Thema AR- und VR-Technologien?

Dr. Jonathan Harth von der Universität Witten/Herdecke mit VR-Brille; copyright: Universität Witten/Herdecke, Jonathan Harth

© Universität Witten/Herdecke, Jonathan Harth

Schon vor vielen Jahren habe ich mein Herzblutthema entdeckt: die Frage nach dem Einfluss von Computern und Digitalisierung auf unsere Gesellschaft. Zu diesen Faktoren gehören eben auch die Technologien VR und AR. In den letzten Jahren habe ich dazu geforscht, publiziert und gelehrt.

Und dann haben Sie Anfang dieses Jahres sogar die Bundesregierung beraten dürfen.

Genau, zusammen mit anderen Fachleuten. Der VDI (Verband der deutschen Industrie und Elektrotechnik) lud im Auftrag des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag Experten aus Forschung und Wissenschaft ein. Es ging darum, einzuschätzen, welche Förderungsmaßnahmen diese neuen Technologien brauchen und welche Risiken es bergen kann, wenn man sie in größerem Maßstab einsetzt.

Was war Ihr Rat an die Bundesregierung?

Wir haben vorgeschlagen, dass die Regierung überlegen sollte, wie sie den deutschen Standort stärken könnte, gerade wenn man bedenkt, dass diese Technologien maßgeblich von amerikanischen Unternehmen entwickelt, produziert und eingesetzt werden.

Man hört und liest ständig über VR und AR, aber werden diese Medien überhaupt schon angewendet?

Auch wenn der Hype etwas abgeflacht ist und einige feststellen mussten, dass sich gerade VR nicht so schnell verbreitet, wie erhofft, gibt es schon viele Unternehmen, die sowohl VR als auch AR prototyphaft einsetzen. Besonders AR verspricht sehr viele Potenziale. Generell wird derzeit sehr viel darüber nachgedacht, was dieses Medium alles leisten kann. Die AR-Hardware ist aber noch nicht so weit entwickelt wie VR-Brillen beispielsweise.

Was macht eigentlich den Reiz aus am VR-Erlebnis?

Das Neue und Besondere am VR-Medium ist, dass es Präsenz erzeugen kann, also das Gefühl, an einem anderen Ort zu sein. Obwohl der Nutzer sich mit seinem realen Körper weiterhin zuhause, im Büro oder an einem öffentlichen Ort aufhält, hat er das Gefühl, sich sensorisch und audiovisuell an einem anderen Ort zu befinden. Da sein ganzes Sichtfeld mit dem Display ausgefüllt ist und er seinen Kopf und Körper normal bewegen kann, vergisst er seine reale Umgebung und empfindet die virtuelle Umgebung als die wirkliche. Das geht sogar so weit, dass er sich in einer entsprechend gestalteten VR-Umgebung an sich herunterschauen und einen veränderten Körper sehen kann. Und der virtuellen Welt sind keine Grenzen gesetzt, außer der Vorstellungskraft der Designer.

Welche praktischen Anwendungsfälle gibt es für VR beispielsweise?

Lässt man das Entertainment-Geschäft außen vor, findet man VR vor allem in Schulungen und Trainings von Abläufen. Im medizinischen Bereich sollen VR-Simulationen Ärzte oder Chirurgen auf Notfälle vorbereiten. Trainiert man bestimmte Abläufe im Virtuellen, kann man sie im Ernstfall besser abrufen. Auch das Militär arbeitet schon seit den neunziger Jahren mit VR-Simulationen.

Architekten profitieren von VR, weil man virtuelle räumliche Begebenheiten durch das stereoskopische Sehen in der Brille betrachten kann. Wie groß wirkt eine Deckenhöhe von vier Metern im Vergleich zu dreieinhalb Metern? Das muss man sich nicht vorstellen, man spürt es mit VR tatsächlich. Für industrielle Fertigungsgänge wird VR auf ähnliche Weise genutzt.

Wie sieht es mit der VR-Technologie im Einzelhandel aus?

IKEA hat relativ schnell einen Küchenplaner als VR-Demo auf den Markt gebracht. Auch bei anderen Möbelhäusern können Kunden, wenn sie die Maße ihrer Wohnung eingeben, die angebotenen Möbel in einem virtuellen Abbild der Wohnung platzieren und diese dann kaufen. VR ermöglicht also das Einkaufen von zuhause aus. Ich schätze, dass das eine sehr große Wirkung entfaltet.

Und wenn der Händler VR im Geschäft selbst anwenden möchte?

Dann müssen im Store geeignete Räume geschaffen werden, damit Kunden VR nutzen können, ohne beispielsweise gegen Möbel zu laufen oder andere Kunden beim Shoppen zu stören. Aber mit dieser Technologie kann man Leute mit einem großartigen Erlebnis in den Laden locken. Idealerweise passt das zum Angebot oder zum Produkt.

Wie ist das bei AR im Handel?

Der größte Unterschied zu VR ist, dass AR einen mobilen Einsatz ermöglicht, während der Nutzer bei VR örtlich gebunden ist. Bei AR sieht der Nutzer weiterhin die reelle Umgebung und kann sich orientieren.

Im Einzelhandelsgeschäft selbst sehe ich daher tatsächlich die AR-Technologie vorne. AR-Anwendungen von heute sind vom Handy oder vom Tablet aus zu bedienen, weil es die entsprechenden Brillen noch nicht gibt. Auf ihrem Tablet oder Smartphone könnten sich Kunden im Store also beispielsweise mit der neuen Hose betrachten.

Sieht so die Zukunft von AR aus?

Nein, das Tablet-AR ist sicher nicht das Ende der Fahnenstange, sondern eher eine Krücke, um zu symbolisieren, was AR einmal sein wird. Eines Tages könnte eine herkömmliche Brille Zusatzinformationen, also die Erweiterung der Realität, anzeigen. Und im Gegensatz zu VR nimmt der Nutzer seine Umwelt und seine Mitmenschen wahr. Das macht einen Shoppingtrip mit Freunden oder Familie zu einem ganz anderen Erlebnis als ein kurzer Ausflug in eine virtuelle Umgebung. Wenn es den Hardware-Entwicklern gelingt, diese AR-Brillen massentauglich zu entwickeln, sehe ich in der Technologie den viel größeren gesellschaftlichen Impact.

Bei VR hingegen …

… ist das Erleben aktuell sicher noch der größte Punkt, weil es immer noch viele Leute gibt, die das Medium noch nicht ausprobiert haben. Es ist immer wieder faszinierend, wie stark VR wirkt, wenn jemand die VR-Brille zum ersten Mal trägt. Das verfliegt natürlich mit der Zeit. Aber gerade im Einzelhandel für ein bestimmtes Milieu oder eine bestimmte Generation, kann es ein sehr mächtiges Instrument sein – mit einer gut gemachten, zielführenden VR-Erfahrung, die dem Kunden einen Zusatznutzen bietet.

Nutzen Sie VR denn auch privat?

Ab und zu auf jeden Fall, aber nicht so oft, wie ich gedacht hatte. Es ist anstrengender als zum Beispiel einen Film zu schauen, weil ich den Körper einsetzen muss, und man braucht unbedingt Platz dafür. VR ist wirklich eine erstaunliche Technologie und wird nicht so schnell wieder von der Bildfläche verschwinden, da bin ich mir sehr sicher.

Interview: Julia Pott
Zuerst veröffentlicht auf: iXtenso – Magazin für den Einzelhandel

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