1. Juni 2021 | Retail Marketing, Retail Technology, Shop Fitting, Store Design & Visual Merchandising, Shopping Today

Retail as a Service – kurz RaaS – nennt sich, was im Handel gerade erkennbar auf dem Vormarsch ist. Dahinter verbirgt sich ein neuartiges Konzept, das die stationäre Fläche zu einer Art umfassender Serviceleistung für die Hersteller macht. Eine Win-Win-Situation für beide Seiten?

Retail-as-a-Service-Stores ermöglichen Herstellern einen direkten Kontakt zur Kundschaft. „Anstatt Ware einzukaufen und zu verkaufen – so der klassische Weg – stellt der Handel dem Hersteller in diesem Fall Fläche zur Verfügung, indem er sie an ihn vermietet“, so Handelsexperte Wolf-Jochen Schulte-Hillen. Anbieter von RaaS-Stores fungieren dabei als Dritte, die die Abwicklung übernehmen. Welche Services sie den Marken bieten, variiert: Neben der Fläche stellen RaaS-Konzepte häufig den Ladenbau, Zahlungs- und Analysetechno­logien, Personal und Bestandsmanagement und verantworten die Auswahl der Produk­tesowie ihre Zusammenstellung und Insze­nierung. RaaS-Stores präsentieren einen Sortimentsmix in einem minimalistisch gestalteten, technologiegestützten Umfeld. Unterschiede der einzelnen Konzepte las­sen sich in der Produktauswahl, der Art der Inszenierung oder den Services für die Her­steller erkennen.

Seinen Ursprung hat Retail as a Service in den USA. Vor dem Hintergrund, dass sich online innovative Produkte finden lassen, die der stationäre Handel nicht bietet, grün­deten Vibhu Norby, William Mintun, Phil­lip Raub und Nicholas Mann 2015 „B8ta“. Ziel war es, „Räume zu erschaffen, in denen Shopper die neuesten einsatzfähigen Pro­dukte ausprobieren können“. Das Motto: „Try before you buy“. Nicht der Umsatz pro qm zählt, sondern das Erlebnis. Zur Unter­stützung der eigenen Filialen entwickelte B8ta das RaaS-Modell. Das Prinzip fruchte­te: Auf ihre erste Testfläche in Palo Alto/Si­licon Valley folgten etliche Geschäfte lan­desweit.

Das Modell fand Nachahmer – welt­weit. In den USA zählen u.a. „Neighbour­hood Goods“ von Alexander Matt und „Showfields“ von Tal Zvi Nathanel mit Filialen in New York und Miami zu den RaaS-Anbietern. In China laden z.B. die „JD Retail Experience Shops” des Retail-Gigan­ten JD.com zum haptischen Erlebnis ein. Auch B8ta selbst ist inzwischen u.a. in den Arabischen Emiraten und China aktiv.

Neighbourhood Goods
Mit je einem Store in Plano und Austin im US-amerikanischen Bundesstaat Texas sowie einem Store in New York City zählt auch das 2018 von Alexander Matt initiierte Konzept Neighbourhood Goods zu einer Art „Retail as a Service“-Store. Präsentiert werden in den jeweils individuell gestalteten Läden vorwiegend Marken, die sich sowohl online als auch offline inszenieren lassen. Marken, Storylines und Ereignisse sind kontinuierlich im Wandel. Ziel ist es, ein Treffpunkt für die Gemeinde zu sein, die Menschen zusammenzuführen. Bestandteil des Konzepts sind neben dem Shop auch die eigenen Restaurant- und Bar-Konzepte „Prim and Proper“ und „Tiny Feast“.

 

HANDEL DEFINIERT SICH NEU

Durch die Untervermietung der stationären Flächen könne ein RaaS-Anbieter seine Kosten sen­ken, erklärt Schulte-Hillen einen Vorteil des Konzepts und ergänzt: „Der Handel wird zum Dienstleister.“ Der Hersteller wieder­um erwarte eine Gegenleistung. „Über im Store eingesetzte Technologien werden Da­ten gesammelt und den Herstellern zur Verfügung gestellt, um den Erfolg ihrer Wa­ren auf der Fläche zu analysieren. Mithilfe von Sensoren beispielsweise lassen sich die Bewegungsabläufe der Kundschaft tracken“, so Schulte-Hillen. Weiterhin liefern Dis­plays mit QR-Codes Daten zu den Verhal­tensweisen der Konsument:innen. Scannen Shopper einen QR-Code im RaaS-Store, werden sie i.d.R. auf die Website des Ge­schäfts geführt, um z.B. ihren Kauf abzu­schließen.

Damit der Händler seiner Aufgabe als Dienstleister gerecht wird, muss er in punk­to digitale Technik und Personalqualität im­mer state of the art sein, meint Schulte-Hil­len. Das mache ihn begehrenswert für Start-ups. Aber auch etablierte Marken nut­zen die Möglichkeit, neue Produkte im Markt zu testen, bevor sie in Serie gefertigt werden. Da Waren oftmals nach Bedarf pro­duziert werden, kommen RaaS-Stores oft mit wenig oder ohne Lagerflächen aus.

Retail as a Service in Deutschland

Blaenk Schildergasse 31, 50667 Köln

Freiraum Quartier 205, Friedrichstr. 68, 10117 Berlin

The Latest Kurfürstendamm 38, 10719 Berlin

Vaund Georgstraße 14, 30159 Hannover

UMSETZUNG IN DEUTSCHLAND Auch in Deutschland gibt es immer mehr RaaS-Sto­res. „Infolge der zu erwartenden Schließun­gen in Shopping-Centern und Einkaufsstra­ßen zeichnet sich ein neuer Trend zur so genannten Sharing Economy ab“, meint Wolf-Jochen Schulte-Hillen. Jüngstes deut­sches RaaS-Konzept ist „The Latest“, das im November in Berlin eröffnet wurde. Dort wollen Gründer Martin Schnaack und Co-Founder Dhi Matiole Nunes den Entde­ckertrieb der Kundschaft erwecken. Der Name ist Programm: The Latest listet aus­schließlich Produkte, die entweder neu für den Markt sind, nur online vertrieben wer­den oder im stationären Einzelhandel in Deutschland noch nicht zu finden sind – von Start-ups, jungen und etablierten Mar­ken aus den Bereichen Technologie, Design, Fashion, Lifestyle, Genuss und Gesundheit.

Blaenk inspiriert in Köln mit Apartment-ähnlichen Arealen. © Oliver Güth für Blaenk

Blaenk inspiriert in Köln mit Apartment-ähnlichen Arealen. © Oliver Güth für Blaenk

Für eine monatliche Fixgebühr erhalten Warenhersteller eine Präsentationsfläche inklusive Ladenbau, Zugang zu den Insto­re-Analysedaten und Präsenz in einer Kam­pagne sowie auf der Latest-Website. Für weitere Leistungen, z.B. die Übernahme der gesamten Logistik, fallen Aufpreise an. Den generierten Umsatz erhalten Marken zu 100 Prozent zurück.

Ähnlich sind die Konzepte von „Blaenk“, „Vaund“ und „Freiraum“. Blaenk war eine Idee des Unternehmens Brickspaces, das erstmals 2019 in Düsseldorf aufpoppte und seit Ende 2020 einen Standort in Köln hat. Das Besondere: Der Store inszeniert Lifestyle-Produkte in einer Umgebung, die ei­nem Apartment nachempfunden ist. Mit­hilfe KI-gestützter Kameratechnologie zeichnet Blaenk das Besucherverhalten auf und kann dank einer zentralen Kasse Ein­käufe nachverfolgen und Warenkörbe ana­lysieren. GPS- und Wifi-Daten liefern Infor­mationen zur Kundschaft und deren Interessen.

Vaund, eine Marke des Unternehmens Realtale, versteht sich als Ausstellungsflä­che für „außergewöhnliche“ Premium- waren – in Hannover mit eigenem Store, bei Engelhorn in Mannheim mit einem Shop-in-Shop und bald auch bei L&T in Osnabrück. Charakteristisch für Vaund sind Warenträger mit einer Kabelführung, über die die gezeigten Produkte mit Strom ver­sorgt und somit vor Ort erprobt werden können. Während seiner Mietlaufzeit wech­selt ein Produkt zudem mehrfach seinen Standort. Tablets und QR-Codes liefern dem Hersteller Erkenntnisse über die Attraktivi­tät seines Produktes. Bei Bedarf betreibt Vaund Marktforschung für die Hersteller.

Freiraum nennt sich das Konzept der Immobilien-Experten Franz de Waal und Emanuel Elverfeldt im Quartier 205 in Berlin. Hier liegt der Fokus auf online-affinen Marken aus den Bereichen Mode, Beauty und Interior Design, die z. B. über soziale Netzwerke wie Instagram vertrieben werden.

 

RETAIL AS A SERVICE IN CORONA-ZEITEN

Motivwände als Selfie-Spots bei „Freiraum“, © Yamada

Motivwände als Selfie-Spots bei „Freiraum“, © Yamada

 

Auch Retail as a Service-Anbieter spüren die Folgen der Corona-Pandemie. „Der Lockdown hat uns vier Monate nach Öffnung unseres ersten Ladens Wind aus den Segeln genommen, was die Offline-Ex­perience betrifft. Wir haben aber auch Zeit gewonnen, um den technologischen Aspekt unserer Vision auszubauen. Zuletzt haben wir einen Online-Marktplatz mit über 120 so genannten Direct-to-Consumer-Marken aufgebaut und die digitale Anbindung an die Offline-Flächen realisiert“, so die Grün­der von Freiraum.

Vaund-Geschäftsführer Michael Vollandsagt: „2020 haben wir Wellenbewe­gungen gespürt, bis Herbst abflachend, da­nach aufsteigend, sodass wir bis zum Jah­resende 30 Prozent mehr Hersteller zu unseren Kunden zählten als zu Jahresbe­ginn. Auch der Anteil der Online-Einkäufe ist in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen.“

Auch Blaenk-CEO Martin Bressem schaut trotz aller Umstände positiv in die Zukunft: „Konzepte wie unsere werden nach der Pandemie relevanter denn je, weil Endkunden gezielt Orte aufsuchen werden, die emotionalisieren und ein positives Er­lebnis schaffen. Flexible Konzepte bieten Marken die Möglichkeit, sich unverbindlich in Toplagen präsentieren zu können.“ Schul­te-Hillen meint: „Retail as a Service oder besser noch Retail as an Experience getreu dem B8ta-Motto kombiniert die Vorzüge des stationären Handels mit denen des On­line-Handels. Wichtig ist das Kuratieren des Sortimentes, das regelmäßig wechseln soll­te, um nicht gewöhnlich zu werden.“

Autorin: Katharina Sieweke
Quelle: www.stores-shops.de

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