24. Januar 2022 | Interview, Leading Voices, Retail Technology, Shopping Today

Über Herausforderungen, Chancen und Beispiele neuer Geschäfts- und Einkaufsmodelle

von Katja Laska (exklusiv für EuroCIS.mag)

„Über viele Jahre ließ sich die Branche eindeutig aufteilen in den stationären und den digitalen Handel, aktuell befindet sich der Einzelhandel in der wohl größten Umbruchphase seit Einführung der Selbstbedienung“, sagt Xenia Giese, Industry Executive Retail & Consumer Goods bei der Microsoft Deutschland GmbH.

Im Interview erklärt sie, warum die Zeiten der Aufteilung vorbei sind, worauf der Handel in den jetzigen achten muss und was die Zukunft bringen kann.

Frau Giese, vor welchen Herausforderungen steht der stationäre Handel aktuell?

Frau mit braunen langen Haaren und in grauem Blazer lächelt in die Kamera

©Microsoft

Xenia Giese: Die Grenzen zwischen stationärem und digitalem Handel verwischen zunehmend. Spätestens seit der Corona-Pandemie ist Hybrid Commerce daher kein trendiges Buzzword mehr, sondern das Gebot der Stunde. Der stationäre Handel steht damit mehr und mehr unter Zugzwang, das gelernte, analoge Store-Schema aufzubrechen und ins digitale Zeitalter zu überführen, um in Zukunft erfolgreich zu bleiben.

Parallel dazu besitzt auch das Thema Nachhaltigkeit im Einzelhandel weiterhin große Relevanz. Mit Hilfe der Digitalisierung werden zwar viele neue Möglichkeiten für nachhaltige Prozesse und deren Monitoring geschaffen. Gleichzeitig hat die Digitalisierung aber auch Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsziele. Der Betrieb von Smart Stores mit digitalen Anwendungen basierend auf Sensorik, Internet der Dinge-Technologie und KI ist natürlich energieintensiver als der Betrieb einer nicht oder kaum digitalisierten Filiale.

Neben Hybrid Commerce fallen auch Begriffe wie Omnichannel im Zusammenhang mit der Customer Journey und Kundenverhalten immer wieder. Was bedeutet das für Händler und Händlerinnen?

Seit einigen Jahren verlagern sich die Umsätze von der Verkaufsfläche zunehmend ins Netz und damit die Touchpoints dazwischen: Vorbestellung online, Abholung am Store, am Automaten, Lieferung in den Kofferraum. Gefragt ist daher eine strukturelle Konsolidierung, bei der digitale Lösungen eine wichtige Rolle übernehmen können. Omnichannel und Hybrid Commerce sind nicht neu und waren bereits vor Corona ein wichtiges Thema. Durch die Krise hat sich die Dynamik der Digitalisierung weiter erhöht. Schon heute zeigt sich: Händler und Händlerinnen, die allein auf stationäre Lösungen setzen und keine hybriden Modelle anbieten, werden es in Zukunft schwer haben, wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Erfolg von Handelsunternehmen hängt mehr denn je davon ab, wie schnell sie sich auf die Bedürfnisse der Konsumenten und Konsumentinnen einstellen und entsprechende, oft längst vorhandene Lösungen implementieren können.

Mit stationären Geschäften gehen auch immer große Flächen einher. Wie können diese effizienter genutzt werden?

Mit Ausweitung des Onlinehandels kommt es im stationären Handel zu einem Rückbau von Verkaufsflächen, um eine gewinnbringende Flächenproduktivität zu halten. Lokale Geschäfte stehen vor der großen Herausforderung, vorhandene Flächen Zug um Zug zu modernisieren. Mittels Microwarehouses werden Teile von Filialflächen in kleine Warenlager umfunktioniert, die im Hybrid Commerce ein separates Picking von Online-Bestellungen ermöglichen.

Geöffneter Snackautomat mit Getränken

©twenty20photos

Welche Vorteile bieten diese Microwarehouses?

Sie erhöhen die Effizienz, vereinfachen die Bestandsführung und verhindern, dass Kundschaft und Picker in der Filiale möglicherweise um die gleichen Artikel konkurrieren. Darüber hinaus stellt die Verkürzung der letzten Meile durch Lieferungen aus Microwarehouses unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten einen wichtigen Hebel dar, um CO2 einzusparen.

Zum Einsatz kommen in den Microwarehouses Automatisierungslösungen zur Unterstützung der Mitarbeitenden beim Picking oder auch entsprechende Roboter, die eine Kombination aus Kommissionier- und Lagerroboter für eine kleine Fläche darstellen. So können Händler und Händlerinnen die vorhandenen Flächen effizienter nutzen. Moderne Fulfillment-Lösungen von Microsoft-Partnern wie StrongPoint und Self Point-Store.AI, die den Picking-Prozess in der Filiale oder im Microlager mit Wearables, Anwendungen und Hardware wie Kommissionierwagen unterstützen, reduzieren den Lagerbedarf bei gleichzeitiger Beschleunigung der Versand- und Lieferzeiten.

An welchen Punkten sind Automatisierung und hybride Modelle noch auf dem Vormarsch?

Hand, die ein Smartphone an einen Bezahlautomaten hält.

©leungchopan

Eine Station ist die Kasse, auf die ein Teil der gesamten Filialprozesskosten entfällt. Hier ergeben sich verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, in denen der Handel mit hybriden Ansätzen, wie traditionellen Kassen und Self-Checkout-Varianten, kreativ werden kann. Der Ansatz einer (teilweise) unbesetzten Filiale basiert dabei insbesondere auf einer kleineren Verkaufsfläche mit einer reduzierten Anzahl an Artikeln. Hier kann die Kundschaft zu den Randzeiten oder auch 24/7 mit einer App den Markt betreten und per Self-Checkout-Station bzw. -App bezahlen.

In Zeiten des Hybrid Commerce kommen auch Paket- und Verkaufsautomaten vermehrt zum Einsatz, die als Einkaufspunkte oder beim Click & Collect-Modell als Abholstationen dienen. Viele von ihnen verfügen bereits über zusätzliche Funktionalitäten wie digitale Screens, die dynamische Preise und Videos zeigen können oder auch die automatische Überwachung des Bestandes mittels Sensorik. Einige Paketautomaten bieten neben der Konfiguration der Fächeranzahl und -größe sowie der Auswahl für gekühlte / ungekühlte Produkte eine eigene Software-Plattform zur Verwaltung, wodurch eine durchgehende Kundenbindung – beispielsweise durch eine eigene App – bis zur Abholung sichergestellt werden kann.

Einen Schritt weiter gehen Frictionless Shopping-Formate bzw. Grab & Go-Stores, bei denen die Kundschaft einfach Ware entnehmen und den Laden wieder verlassen kann. Diese Smart Stores sind aus technischer Sicht jedoch eine große Herausforderung, da für die Kundenidentifizierung sowie Nachverfolgung von Bewegungen und Artikeln verschiedenste Sensorik benötigt wird. Um diese Daten auszuwerten, braucht es zum Beispiel Kameras in Decken und Regalen oder Gewichtsmatten, entsprechende IoT-Lösungen, die Sensorik-Daten aggregieren, sowie KI-Lösungen. Nur so ist ein vollautomatischer Checkout möglich.

Ihr Tipp: Was würden Sie einem Einzelhändler oder einer -händlerin raten, der oder die überlegt sich hybrid aufzustellen?

Im ersten Schritt bietet sich ein Vorbestell- und Pickup-Service an. Je nach Handelssegment und Größe des Handelsunternehmens kann dies über eine eigene App oder über die Website erfolgen. Für KMU-Händler oder -Händlerinnen gibt es beispielsweise mit Microsoft Bookings auch eine Lösung, mit der Pick-Up- oder Service-Termine gebucht werden können. Auch die Vorteile von Microwarehouses sollten bestenfalls zum Einsatz gebracht werden, da es aktuell sogar durch Bund und Länder eine Förderung gibt.

(Weitere Tipps finden Sie hier: Mikro-Depot Förderung: Mikro-Depot-Richtlinie | Förderdatenbank für den Einzelhandel | HDE-Klimaschutzoffensive)

Welches Einkaufs- oder Geschäftsmodell ist Ihrer Meinung nach die Zukunft?

Der Begriff ‚hybrid‘ beschreibt unser zukünftiges Shoppingverhalten bereits sehr treffend. Je nach persönlichen Vorlieben werden sich die Konsumenten und Konsumentinnen im Kontinuum zwischen Online- und Offline-Shoppen bewegen. Hier werden sich weitere Services und Erlebnisse etablieren, die ebenfalls online oder offline passieren. Beispielsweise zählen hierzu Abomodelle, Livestream Shopping, Haushaltsgeräte mit selbständiger Nachbestellfunktion, das Erleben von Produkten im Metaverse sowie mit der Community vor Ort in der Filiale. Und sicherlich werden wir ebenso viele spannende und kreative Kombinationen dieser Möglichkeiten erleben.

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