2. August 2022 | Gastbeitrag, Retail Marketing, ReTell, Visions of Retail

Das Metaversum wird das Internet erweitern – um virtuelle Welten, die dem realen Leben nachempfunden sind und doch ein ganz neues Spektrum an Möglichkeiten eröffnen. Bis zur Formvollendung scheint der Weg noch lang, Experten raten dem Einzelhandel aber, sich schon jetzt mit dem zusätzlichen Kanal zu beschäftigen.

Laut „manager magazin“ hat der Modedesigner Philipp Plein gerade 1,4 Mio. Dollar für ein Metaverse-Grundstück gezahlt. Die Überschrift des redaktionellen Beitrags lautete: „Meine Mutter hat mich auch gefragt, ob ich total verrückt bin.“ Doch man muss aktuell nur die Jugendlichen beobachten, die seit Pandemiebeginn kaum noch von den Computer-Bildschirmen wegzubewegen sind, um das Potenzial – und die Gefahren – virtueller Welten zu erahnen.

Spiele wie Fortnite, Roblox oder Minecraft gelten als Vorstufen des Metaversums. Einerseits, weil sich User hier schon recht realitätsnah bewegen können und zum Zweiten, da sie sich auf den Plattformen in Echtzeit mit ihren Freunden oder anderen Menschen „treffen“ und interagieren können. Was aktuell noch Spielfiguren sind, können künftig Avatare sein, die aussehen wie man selbst – oder wie derjenige, der man gerne wäre. Dann gilt, wie im echten Leben: Kleider, Uhren, Handtaschen, die richtigen Sneaker … machen Leute.

Ausdruck von Persönlichkeit

„In der Metaverse wird der Bedarf an Personalisierung einen neuen Höhepunkt erreichen. Während Milliarden von Menschen in die virtuelle Welt eintauchen, um zu spielen, zu arbeiten oder gemeinsam Konzerte zu besuchen, möchten sie ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen“, ist Stefan Hauswiesner überzeugt, CEO und Mitgründer des Grazer Software-Entwicklers Reactive Reality.

Dessen Lösung „Pictofit“ wandelt Bilder von Produkten und Personen „in hoher Geschwindigkeit und zu einem erschwinglichen Preis“ in fotorealistische 3D-Modelle um, also beispielsweise ganze Modekollektionen von Marken. An einer der jüngsten Partnerschaften des Unternehmens, so heißt es, ist Microsoft beteiligt. Jeder, der den Microsoft Marketplace nutze, habe Zugriff auf die Technologie.

Kaufland in Animal Crossing; Copyright: Kaufland

© Kaufland

Vielfältige Chancen

Es klingt bereits an, welche Chancen sich für den Einzelhandel eröffnen. Kaufland zum Beispiel hat bereits einen Laden im Nintendo-Game „Animal Crossing“ eröffnet. „In unserer Branche ein echtes Novum“, so Alisa Götzinger, verantwortlich für die Unternehmenskommunikation. Sie erläutert: „Die jeweiligen Zielgruppen erreichen wir dort am besten, wo sie unterwegs sind. Unsere jüngste Kundengruppe bewegt sich eben stark in der Gamingwelt. Unser Store ist einem echten Supermarkt nachempfunden, der – diese Botschaft möchten wir vermitteln – auf Nachhaltigkeit achtet.“

Aus Unternehmenssicht geht es also um einiges: darum, Menschen zu erreichen und sie auf sich aufmerksam zu machen, das eigene Image aufzubauen und zu pflegen, Begehrlichkeit für physische Produkte zu wecken, aber eben auch virtuelle Produkte zu verkaufen.

„Für die Generation Z haben digitale Güter und Assets schon jetzt den gleichen Wert wie physische Produkte“, so die Erfahrung von Alexander El-Meligi, CEO und Co-Founder der Digitalagentur Demodern mit Sitz in Köln und Hamburg. Technische Grundlage der Digital-Verkäufe sind verschiedene Kryptowährungen. Besitztümer werden im Metaversum als sog. NFTs, Non-Fungible Tokens, hinterlegt. Diese sind quasi wie digitale Eigentumszertifikate zu verstehen.

App-basierte Online-Welten

Online-Welten wie Decentraland oder The Sandbox vermarkten sich bereits als Metaversen. „Viele sind web- oder appbasiert und somit für jeden leicht zugänglich“, macht Alexander El-Meligi aufmerksam.

Adidas baut gerade für seine Sparte Originals eine virtuelle Präsenz bei The Sandbox auf, und erklärt dazu: „Wir treiben seit Jahren den Prozess der Digitalisierung in allen Bereichen des Unternehmens voran. Da ist es nur folgerichtig, auch innovative Technologien wie Blockchain und Metaverse zu begleiten. Das Metaversum gehört aktuell zu den spannendsten Entwicklungen im Bereich Digital. Unser Ziel ist es, unsere Marke dort sichtbar und wertvoll zu machen.“

Genau richtig, sagen Experten. Noch ist es zu früh, um zu wissen, welche Investitionen sich langfristig lohnen und welche Plattformen durchsetzen werden, aber lernen, erforschen, vorbereiten, im Wettbewerb positionieren – all das sei schon jetzt sinnvoll.

Xiaomi Metaverse; Copyright: Xiaomi

© Xiaomi

Virtueller Marketing- und Vertriebskanal

„Da das Metaversum langfristig zu einem wichtigen neuen Marketing– und Vertriebskanal werden wird, sollten alle Unternehmen beginnen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen“, empfiehlt Agenturchef El-Meligi.

Demodern ist bereits seit 2019 engagiert: „Wir haben eine eigene Software für die Umsetzung von Corporate Metaverse Experiences entwickelt, welche inzwischen schnell einsetzbare individuelle Lösungen für Unternehmen ermöglicht. Zuletzt haben wir einen virtuellen Metaverse Showroom für Xiaomi gelauncht, in dem die neuesten Smartphones des Elektronik-Herstellers präsentiert wurden – mit hoher Resonanz.“

Das Metaversum bietet also, so El-Meligi, die Möglichkeit, „eine E-Commerce-Lösung in ein neues Produkt- und Markenerlebnis zu transformieren, um neue Zielgruppen wie die Gen Z zu erreichen oder zu erschließen“. Philipp Plein hat am 24. März auf seinem virtuellen Grundstück erstmals eine Fashion Show durchgeführt. Direkt im Anschluss konnten Nutzer:innen von Decentraland die vorgestellten digitalen Kleidungsstücke als NFTs kaufen, um ihre Avatare damit einzukleiden.

Weiterentwicklung von VR und AR

Insgesamt ist das Metaversum-Potenzial noch sehr viel weiter. „Das Metaverse kann außerdem dabei helfen, Mitarbeitende besser zu befähigen, Abläufe zu optimieren und Produkte zu transformieren“, zählt Xenia Giese auf, Senior Industry Advisor Retail & Consumer Goods bei Microsoft Deutschland. Sie ergänzt: „Das Metaversum ermöglicht gemeinsame Erlebnisse in der physischen und digitalen Welt“ – eine positive Botschaft an den stationären Handel.

Wie gut hybride Systeme funktionieren und sich stationärer Einkauf und digitales Erlebnis vereinen lassen, betont man auch bei Meta Deutschland. 2021 kündigte Mark Zuckerberg an, sich mit seinem Unternehmen Facebook auf die Entwicklung eines Metaversums konzentrieren zu wollen, der Konzern wurde in Meta Platforms umbenannt.

Universelle Plattform

Eine klare Ansage, wohin die Reise geht, auch wenn „das Metaversum nicht über Nacht entstehen wird. Viele der Produkte werden erst in den nächsten 10 bis 15 Jahren vollständig realisiert werden“, prognostiziert Claudia Studtmann, Head of Retail DACH bei Meta. Sie veranschaulicht: „Die Entwicklung des mobilen Internets hat uns zunächst dazu verholfen, zu schreiben, dann zu sprechen und uns jetzt über Videocalls gegenseitig zu sehen. Das Metaversum wird der nächste Schritt sein, in dem wir VR und AR zu einer universellen Computerplattform weiterentwickeln.“

Prof. Dr. Thorsten Henning-Thurau als Avatar im Metaverse; Copyright: Henning-Thurau

© Henning-Thurau

Schon jetzt engagieren

Prof. Dr. Thorsten Hennig-Thurau, Professor für Marketing & Media Research an der Universität Münster, hat Sorge, dass der (stationäre) Einzelhandel den rechtzeitigen Einstieg in das Metaversum verpasst.

Was sind die besonderen Wettbewerbsvorteile des Metaversums gegenüber klassischem 2D-Onlinehandel?

Zum einen kann mit dem Grad an Immersion, den das Metaverse beim Zugang über moderne VR-Headsets bietet, selbst die hübscheste Website nicht mithalten. Der eigentliche Mehrwert beim Shopping ist aber das soziale Element – ich kann meinen Einkaufsbummel zusammen mit Freunden veranstalten, statt alleine vor dem Rechner meine Auswahl treffen zu müssen.

Was bedeutet das für den stationären Retail?

Es erwächst ein mächtiger zusätzlicher Kanal, der den physischen Geschäften und Innenstädten weitere Umsatzprozente abnehmen wird. Die Kernfragen, die sich Unternehmer daher stellen müssen: Bin ich bereit dafür, Filialen im Metaverse zu eröffnen? Und: Wie integriere ich die virtuelle Verkaufswelt in meinen Mix aus stationären und 2D-Internet- Geschäften?

Was empfehlen Sie?

Alle, die der Konkurrenz nicht den Boden überlassen wollen, sollten, ja müssen sich jetzt engagieren. Am Beispiel Amazon sollte der Handel gelernt haben, dass das Warten bei Märkten mit Netzwerkeffekten keine gute Sache und mitunter der Anfang vom Ende ist.

Autorin: Stefanie Hütz

Quelle: stores & shops (EHI)

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