14. Juli 2020 | Retail Marketing, Visions of Retail

Von Lebenswandel, Brand Experience Spaces und Kooperativen

Ilona Marx (exklusiv für EuroShop.mag)

Welche Auswirkungen wird die Corona-Pandemie auf die Einzelhandelsstruktur haben? Wie entwickelt sich der Online-Handel in den kommenden Jahren? Wo lauern Gefahren der Umstrukturierung? Und welche Chancen bieten sich? Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie war der Einzelhandel mit Umwälzungen konfrontiert, Covid-19 erweist sich nun als Katalysator. Der Dringlichkeit folgend sind wir den aufkommenden Fragen mit drei Experten nachgegangen: Dr. Rainer Zimmermann ist Professor für Strategie, Design und Kommunikation und Mitbegründer des Fachbereichs Retail Design an der HSD, der Hochschule Düsseldorf. Dr. Marc Schumacher lenkt als Managing Partner die Geschicke der Stuttgarter Brand Retail Company Liganova. Architektin Vésma Kontere McQuillan ist Professorin und Leiterin des ArchCommLab im Fachbereich Communication and Design an der Kristiania Hochschule in Oslo.   

The Tipping Point

Dr. Rainer Zimmermann ist Professor für Strategie, Design und Kommunikation und Mitbegründer des Fachbereichs Retail Design an der HSD, der Hochschule Düsseldorf.

Dr. Rainer Zimmermann ist Professor für Strategie, Design und Kommunikation und Mitbegründer des Fachbereichs Retail Design an der HSD, der Hochschule Düsseldorf. © hauser lacour

Um es vorwegzunehmen – in vielen Punkten teilen die Experten eine Meinung. Es ist Konsens, dass die Krise Entwicklungsprozesse vorangetrieben hat. Dr. Rainer Zimmermann erwartet in den Städten unter 50.000 Einwohnern, die bereits heute zwei Drittel der Online-Umsätze in Deutschland auf sich vereinen, eine weitere Schrumpfung des stationären Non-Food-Einzelhandels, nicht zuletzt verstärkt durch Corona. „Die vitale Innenstadt wird es dort nur dann noch geben, wenn Politik, Einzelhandel und Bürger ‚Public Private Partnerships‘ gründen, um die stationäre Nahversorgung aufrechtzuerhalten“, sagt Zimmermann voraus. „In den größeren Städten wird das stationäre Angebot vielschichtig bleiben, aber die bisherigen Formate werden zunehmend hybridisiert. Food Retail wird ungestört weiter wachsen, sich zunehmend mit Gastronomie und auch Wohnen verbinden. Der Scheitelpunkt der urbanen Nachverdichtung ist erreicht. In den nächsten zwei Jahren setzt, begünstigt durch Corona und Home-Office und beschleunigt durch die Mietpreisentwicklung, wieder ein Prozess der Suburbanisierung und Landflucht ein.“

Dr. Marc Schumacher, Liganova

Dr. Marc Schumacher lenkt als Managing Partner die Geschicke der Stuttgarter Brand Retail Company Liganova. © Liganova

Dr. Marc Schumacher sieht Tendenzen, die diesen Prozess unterstützen. „In den letzten drei Monaten haben wir einen Tipping Point erreicht. Viele Menschen hatten Zeit und Grund, zum ersten Mal im Netz Gemüse einzukaufen, Filme zu streamen, ein Online-Yoga-Tutorial zu machen, Essen zu bestellen.“ Oftmals sei ein sogenannter „systemischer Schock“ für Umwälzungen verantwortlich. Der heutige riesige Erfolg des chinesischen Verkaufsportals Alibaba hatte seinen Tipping Point laut Schumacher beispielsweise in der SARS-Epidemie. „Corona wird auch mittelfristig den Druck auf den stationären Einzelhandel, der sich seit 15 Jahren im Umbruch befindet, erhöhen.“ Zimmermann pflichtet ihm bei: „Die Online-Quote am Gesamtumsatz des Einzelhandels dürfte 2020 erstmals über 20 Prozent liegen. Das Essen nach Hause liefern zu lassen ist eine neue Normalität. In der Gastronomie wachsen die Lieferservices, aber auch die Automation.“ Auf der anderen Seite bewirke Corona aber auch eine Trendumkehr, bei der Re-Lokalisierung von Wertschöpfungsketten zum Beispiel. „Die zuverlässige Versorgung mit Produkten aus der näheren Umgebung bekommt einen neuen Stellenwert“, so Zimmermann.

Zurück zur Natur

Vésma Kontere McQuillan

Architektin Vésma Kontere McQuillan ist Professorin und Leiterin des ArchCommLab im Fachbereich Communication and Design an der Kristiania Hochschule in Oslo. © Iiro Piipponen

Hat die Corona-Pandemie auch Auswirkungen auf den gesamten zukünftigen Lebenswandel? Professorin Vésma Kontere McQuillan weist auf den bleibenden Einfluss des Home-Office hin. „Mit der neuen Vermischung von privatem und öffentlichem Raum werden sich die Interior-Design-Typologien unserer Wohnungen verändern. Apartments werden mit Arbeitsstudios gekoppelt. Wohnungen bekommen mehr Balkone und Terrassen und Wohnanlagen mehr Grünflächen.“

Auch der Düsseldorfer Professor Dr. Rainer Zimmermann glaubt an einen Trend hin zur Natur, geht dabei aber noch einen Schritt weiter. „Die Renaissance der Countryside ist eine Tendenz, die aus meiner Sicht beschleunigt wurde.“ Nach 50 Jahren Urbanisierung und urbaner Nachverdichtung sei es ohnehin an der Zeit, dass sich die Menschen wieder dem Land zuwenden würden. Die Innovationsspielräume in den Städten seien ausgereizt, diese sähen sich alle zum Verwechseln ähnlich. Die Lebenshaltungskosten seien hoch. „Viele Unternehmen haben in der Corona-Krise festgestellt, dass die Produktivität ihrer Mitarbeiter im Home-Office nicht etwa sinkt, sondern steigt. Und wenn ich nur noch drei Tage die Woche in die Frankfurter Innenstadt muss, kann ich auch im Taunus wohnen. Die Peripherie der großen Metropolen wird in den kommenden Jahren stark von dieser notwendigen Entzerrung profitieren.“

Gefahren sieht er im Raubtier-Kapitalismus im Stil eines Clemens Tönnies. Die Politik müsse die Exzesse und Ungerechtigkeiten des Kapitalismus besser in den Griff bekommen, sonst werde das System insgesamt an Vertrauen verlieren. „Ohne Vertrauen entsteht kein Konsumklima“, warnt der Retail-Experte Zimmermann. Auf Kosten anderer zu konsumieren werde zunehmend unattraktiv. „Ich denke schon, dass Corona eine allgemeine Nachdenklichkeit befördert hat, vielleicht sogar einen kleinen ethischen Schub auslösen konnte. Ohne verantwortliches, nachhaltiges Handeln wird der Einzelhandel nicht erfolgreich sein können.“ Auch Schumacher sieht die gewachsenen Strukturen des Bedarfshandels durch die Abnahme der Corporate Office Spaces und den daraus folgenden Rückgang der Innenstadtpendler in den nächsten drei bis fünf Jahren bedroht.

Krise als Chance?

Und was sind die Chancen? Nach Überzeugung Schumachers könnte das Handwerk in die Innenstädte zurückkehren. „Sinkende Mietpreise werden es kleinen unabhängigen Betrieben ermöglichen, von der Peripherie der Industriegebiete zurückzukehren.“ Zimmermann sieht das ähnlich. „Die große Chance besteht darin, dass jetzt wirklich alle sehen konnten, dass More-Of-The-Same nicht mehr funktioniert. Die horizontale Skalierung hat ihre maximale Ausdehnung erreicht, die Zukunft der Wertschöpfung ist vertikal. Fast-Food-Ketten sind schon dabei, ihre Kundenbeziehungen zu monetarisieren, und bieten neue Produkte wie zum Beispiel eine Dating-App. Das Geschäftsmodell muss sich um die Kunden herum entwickeln. Die Figur des Händlers, der einkauft und mit Gewinn weiterverkauft, weicht den Algorithmen. Der Einzelhändler der Zukunft ist ein Kurator, der Angebote für seine Kunden aussucht, produziert, produzieren lässt – aus unterschiedlichen Waren- und Dienstleistungsgruppen. Kurz und gut“, ergänzt Zimmermann: „Die Chance besteht, das Berufsbild des Einzelhändlers radikal zu verändern und zukunftsfest zu machen.“

Umwelt- und benutzerfreundlich

Wie beurteilt McQuillan die Auswirkungen von Corona auf das Retail Design? Die Architektin sieht pragmatische Veränderungen auf uns zukommen: Designer werden neue Lösungen für Türöffner finden und Händler die Anzahl der Touchpoints im Laden verringern. Digitale Tools bekommen noch mehr Aufmerksamkeit. Unterdessen werden die Kunden die Qualität von echten Begegnungen und zwischenmenschlichem Austausch mehr denn je zu schätzen wissen. Gleichzeitig wird die Wartesituation vor den Stores ins Gestaltungskonzept mit eingeschlossen.

Laut Zimmermann werden in den nächsten 20 Jahren nur sehr wenige neue Läden gebaut werden. Das sei ähnlich wie bei den Kreuzfahrtschiffen. „Wir haben mehr, als wir jemals wieder brauchen werden.“ Aber der Markt für Commercial Spaces und Temporary Spaces werde dennoch wachsen. „Als Ladenbauer würde ich auch in den Markt für Cabins, Tiny Houses und Mobile Homes einsteigen, der wächst ebenfalls sehr schnell“, empfiehlt er. Die Innenstadt 2030 von Gemeinden unter 50.000 Einwohnern sieht Zimmermann als das Wohnzimmer ihrer Bürgerinnen und Bürger, sie sei autofrei und grün. Der öffentliche Nahverkehr werde eng getaktet und mit grüner Energie versorgt, das Fahrrad sei das wichtigste Transportmittel für die innerstädtische Mobilität. Vésma Kontere McQuillan ist derselben Ansicht: „Unsere Städte werden umwelt- und benutzerfreundlicher in den kommenden Jahren“, prognostiziert die Norwegerin.

Die nächste Dekade

Für die mittelfristige Zukunft zeichnet Zimmermann ein weitgehend positives Bild, wenn auch mit Einschränkungen. „Die Innenstadt 2030 bietet ein attraktives Kulturprogramm und zählt zahlreiche Restaurants, Cafés, Clubs und Kneipen, aber auch Schreiner, Schuster, Schneider, die sich die Mieten hier leisten können, weil sie von der Stadt subventioniert werden. Neben zwei hypermodernen Food-Märkten der Big Four wird es die Kooperative geben, einen Zusammenschluss örtlicher Einzelhändler, die unter Beteiligung der Politik und der Bürger die Non-Food-Nahversorgung und Diversität des innerstädtischen Angebots aufrechterhalten. Die Kooperative bespielt mehrere Gebäude, in denen früher der lokale Einzelhandel tätig war, und fungiert als ein Hub für die stationäre Versorgung. Die Online-Käufe der Bürger werden automatisch zu einem zentralen Abholpunkt gelotst, so dass die Innenstadt nicht von Lieferfahrzeugen blockiert wird. Das Sortiment der Kooperative ist dynamisch, es orientiert sich an regelmäßigen, lokalen Online Votings. Genehmigungen für Non-Food-Einzelhändler werden nur dann erteilt, wenn die Mehrheit der Bürger dafür ist.“ So könnte die kontrollierte Marktwirtschaft im öffentlichen Interesse die Innenstädte retten.

Dr. Marc Schumacher erkennt in Großstädten Potenzial für Brand Experience Spaces und einen interessanten Mietermix, in Form von kulturellen und gastronomischen Einrichtungen, die von Showrooms flankiert werden. Für den Zutritt zu diesen Showrooms könnte man gegebenenfalls sogar Eintritt nehmen. Die Besucher erhielten dann die Möglichkeit, die neuesten Produkte zu sehen und zu testen. Die Showrooms fungierten als Treffpunkte. „Wir leben in einer Welt des Omni-Channel, in der alles jederzeit verfügbar ist. Die physischen Kanäle werden zukünftig aber keine transaktionale Funktion mehr einnehmen“, so Schumacher. Es handelt sich um einen Trend, der am Beispiel von Breuninger und KaDeWe zu beobachten sei. Diese Häuser veranstalten bereits heute bis zu 650 Events pro Jahr. Der Einzelhändler wird also mehr und mehr zum Programmchef. Ein anderes Beispiel: Warum kauft Amazon gerade im großen Stil Kinos im den USA? Um der Anhängerschaft einen Anlaufpunkt zu geben! Wer weiß – vielleicht betreibt Amazon demnächst auch unsere Innenstädte.“ Eine Utopie, der der deutsche Einzelhandel gewiss noch etwas entgegensetzen möchte.

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