30. Mai 2023 | Retail Technology, ReTell, Visions of Retail

Die belgische Colruyt Group testet Technologien und Retail-Konzepte

von Marie Fandel & Julia Pott (exklusiv für EuroCIS.mag)

Tech-Innovationen im Retail-Sektor sind US-amerikanischen Handelsriesen wie Amazon und Walmart vorbehalten? Keineswegs. Die belgische Colruyt Group (mit etwa einem Hundertstel des Umsatzes und der Mitarbeiterzahl im Vergleich zu Walmart) beweist, dass auch in Europa innovative Store- und Shopping-Konzepte ausprobiert und eingeführt werden.

In den letzten Jahren legt das Unternehmen dabei den Fokus auf urbane Einkaufserlebnisse. Sowohl mit autonomen 24/7-Store-Formaten als auch im Bereich Fulfillment bei Online-Bestellungen setzt die Colruyt Group auf Technologien für maximale Convenience in Städten.

Self-Service-Stores für 24/7-Shopping

Im November 2021 fiel der Startschuss für ein neues Ladenkonzept, den autonomen OKay Direct-Store, der rund um die Uhr geöffnet ist.

Ein Kühlregal mit Glastür mit Lebensmitteln darin, eine Hand hält ein Smartphone davor

© Colruyt Group

Damals erklärt Gert Somers, bei der Colruyt Group verantwortlich für die urbanen Strategien bei OKay, die Motivation für dieses Angebot: „Ein großer Mehrwert für die Kunden ist, dass sie rund um die Uhr in ihrer Nachbarschaft einkaufen können. Damit wollen wir vor allem Zielgruppen ansprechen, die von einem Geschäft mit längeren Öffnungszeiten profitieren würden. Ich denke da an Studierende, Menschen mit unregelmäßigen oder späten Arbeitszeiten wie Pflegekräfte, Notdienste usw.“ Die Möglichkeit, selbstbestimmt einkaufen zu können, wird durch neueste Technologien ermöglicht, die aus dem hauseigenen Technologie-Start-up Smart Technics stammen.

Eine intelligente Kameraüberwachung und Sensoren in den Regalen ermöglichen einen reibungslosen Einkauf. Shopper checken per QR-Code-Scan mit der Colruyt Xtra-App oder -Kundenkarte ein beim Betreten des Geschäfts und können so auch die (Kühl-)Regale öffnen und ihre Produkte entnehmen. Das System erkennt die herausgenommenen Produkte und erstellt eine Rechnung, der Checkout erfolgt erneut mit QR-Code, an der Selbstbedienungskasse wird elektronisch bezahlt.

Zu Beginn des Jahres 2023 meldete die Colruyt Group die Eröffnung des zweiten OKay Direct-Shops in Lennik. Im Gegensatz zum 150-Quadratmeter-Geschäft in Ghent handelt es sich hier um einen Container mit gut 20 Quadratmetern. Das sei, erklärt Christophe Dehandschutter, Geschäftsführer von OKay, eine der Stärken der Technologie: Sie sei skalierbar, man könne sie flexibel einsetzen in großen, kleinen oder ganz anderen Formaten und Kontexten. Somers ergänzt: „Mit diesem innovativen Pilotprojekt werden wir die Durchführbarkeit, die Beliebtheit und den Erfolg eines solchen Einzelhandelskonzepts in einem städtischen Umfeld bewerten. Wir glauben, dass das Interesse an solchen Konzepten wächst und dass sie den sich entwickelnden Bedürfnissen der Kunden entsprechen. Wir werden das Konzept ausgiebig testen, bevor wir es in größerem Maßstab in anderen Großstädten einführen.“

Ein Lebensmittelgeschäft mit einer Theke und Warenregalen

© Colruyt Group

Ein personalisierter Supermarkt für die eigene Firma?

Einer dieser anderen, von Dehandschutter angedeuteten Kontexte, in denen die Technologie von Smart Technics zum Einsatz kommt, ist das Spar For You-Konzept. Dieses „Store-as-a-Service“-Angebot richtet sich an B2B-Kunden, also an Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden ein bequemes Einkaufsangebot auf dem eigenen Firmengelände bieten möchten. So kann der Spar For You-Store an die Bedürfnisse des Unternehmens angepasst werden, zu den Optionen gehören Lebensmittel-Ecken mit Kaffeemaschinen und Mikrowellen, Mini-Märkte, die neben Food- auch Non-Food-Artikel im Sortiment haben, und intelligente Kühlschränke. Eine solche individuell gestaltete Betriebsverpflegung bietet Angestellten eine nutzerfreundliche und kontaktlose Rund-um-die-Uhr-Versorgung.

Zwei Männer sitzen an einer Theke in einem Lebensmittelgeschäft und trinken Kaffee und unterhalten sich

© Colruyt Group

Zu den Testprojekten gehören laut Colruyt Group der belgische Standort der Facilitymanagement-Firma ISS, die belgische Fluggesellschaft Brussels Airlines sowie das Pharmazieunternehmen UCB.

Fulfillment-Optionen für Lebensmittelbestellungen

Zum Shopping-Angebot der Colruyt Group gehört neben vielen weiteren Ketten und Store-Formaten auch der E-Commerce-Bereich: Für das Fulfillment der Lebensmittelbestellungen über den Onlineshop Collect&Go testet das Unternehmen ebenfalls verschiedene Methoden, wie Kundinnen und Kunden an ihre online bestellten Einkäufe gelangen.

Eine Frau mit langen Haaren und einem Einkaufstrolley an einer Theke einer Abholstation, wo sie von einem Mitarbeiter bedient wird

© Colruyt Group

Seit März 2022 wurden Walk-in-Abholpunkte von Collect&Go in belgischen Städten eröffnet. Die kleinen Pick-up-Stores richten sich an Stadtbewohnerinnen und -bewohner, die ihre Einkäufe zu Fuß, per Tretroller oder mit dem Fahrrad abholen möchten, statt sie liefern zu lassen. Shopper dabei zu unterstützen, ihre Einkäufe auf nachhaltige Weise und nicht mit dem eigenen PKW zu transportieren, ist genau das Ziel dieses Formats. Dazu können vor Ort auch Trage-, Fahrrad- und Kühltaschen gekauft und sogar Einkaufswagen ausgeliehen werden. Außerdem gibt es einen Recycling-Punkt, an dem die Kundschaft Verpackungen direkt wieder abgeben können. Die Einkäufe können am Tag nach der Bestellung abgeholt werden, dabei wird eine Servicegebühr von knapp sechs Euro fällig.

Lieferservice ohne Lieferpersonal

Ein weiterer Test der Colruyt Group betrifft das selbstfahrende Lieferfahrzeug CLEVON 1, das online bestellte Einkäufe zu Kundinnen und Kunden nach Hause bringen soll. Seit November 2022 legte das autonome Fahrzeug, das vom estnischen Unternehmen Clevon gebaut wurde, 1.000 Kilometer innerhalb von Londerzeel zurück. Ab Januar 2023 kamen zu den Testfahrten auch Testauslieferungen an Kundinnen und Kunden. Das Elektrofahrzeug kann komplett autonom fahren und dabei von einem Tele-Operator überwacht und bei Bedarf ferngesteuert werden. Die Kombination aus Kameras, Langstreckenradaren, Bildverarbeitungssoftware und maschinellem Lernen ermöglicht eine sichere und autonome Fahrt, auch auf belebten Wegen mit anderen Verkehrsteilnehmenden.

Eine Mitarbeiterin belädt ein autonomes Fahrzeug mit Kisten

© Colruyt Group

Tom De Prater, Business Unit Manager für Collect&Go, erklärt die Relevanz dieser Innovation für das Unternehmen: „In einem sich schnell verändernden E-Commerce-Kontext suchen wir […] ständig nach Möglichkeiten, die ‘letzte Meile’ so effizient und nachhaltig wie möglich zu organisieren. Schon jetzt gibt es weltweit einen Mangel an Fahrern, die Kosten für diese letzten Kilometer sind explodiert und die Mobilität in den Städten ist eine echte Herausforderung. Investitionen in Innovation, neue Lösungen und modernste Technologien sind daher von entscheidender Bedeutung.“

Der Einzelhandel und die Handelslogistik in Städten stehen vor diversen Herausforderungen. Wie gestaltet man Shoppingerlebnisse und Fulfillment-Angebote nachhaltig, energiesparend, verkehrsverträglich, zuverlässig, preiswert und attraktiv für die Stadtbevölkerung? Die Colruyt Group sucht aktiv nach neuen Antworten auf diese komplexe Frage.

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